Mittwoch, 16. April 2014

... und ewig fließt der Ganges: Leben und Sterben in Varanasi

Die Zugfahrt nach Murghal Serai Junction - bloß 10 km entfernt von Varanasi - ist entspannt und mit gut drei Stunden nahezu angenehm. Der Horrortrip kommt diesmal per Motorrikscha, denn die lächerliche Strecke ist nicht nur unverschämt teuer - abends um 18.00 h habe ich keine Wahl - sondern straßentechnisch das Übelste, was ich bisher erlebt habe.

Müllverwertung
 Während mein 'Bahnsteiganwerber' mich beplaudert, heizt sein Bruder durch enge staubige Holpergassen, dass mir Hören und Sehen vergeht - was hier auch angebracht ist; denn sonst würde mich der schrill kreischende Hornton der Motorräder und der Anblick der haarscharf vorm Gegenverkehr gerissenen 180 Grad-Wenden schier umbringen. Selbst auf breiteren besseren Straßen ist es so staubig, dass ich meinen Mundschutz  überziehe. Als wir plötzlich den Fluss erreichen, traue ich meinen Augen kaum: Im Slalom zwischen Kühen, Müll, Fußgängern und Lastenträgern, entgegenkommenden Fahrrädern, streunenden Hunden und Motorrädern fahren wir auf eine Holzponton-Brücke zu, die keine 20 cm überm Fluss schwebt und höchstens so breit, wie ein deutsches Doppelbett ist.

Zwei engstehende, senkrechte, rote Stangen an der Zufahrt signalisieren eigentlich     deutlich, dass hier nur Fußgänger und Zweiräder passieren sollten; aber auf ein Rad mehr oder weniger kommt es in Indien eben nicht an. Unsere Karre knattert haarscharf zwischen den Stangen durch, weicht nach links sofort einem entgegen kommenden Fahrrad aus und scheppert über die erste Metallplatte, deren einige, wie ein Flickenteppich aufgelegt sind,  wohl um die weggefaulten Bohlenbrett-Löcher abzudecken.
Wie die Säulenbeine eines Prontosaurus ragen links des Ponton die ersten vier Stelzen einer Brücke in den Himmel. Seit vier Jahren in Bau, wird diese Gangesbrücke frühestens 2020 fertiggestellt sein. Ich schaue über die im letzten Dämmerlicht matt glänzende Wasserfläche und sehe mit Erleichterung das andere Ufer näher kommen.

 
Nach weiterer Staubfahrt erreichen wir irgendwann von der Hauptstraße weg durch winzige Fußgängergassen rumpelnd das 'Elvis'-Guesthouse an einem der unteren Ghats. Die Preise am Hauptghat bewegen sich ab 1500 Rupies aufwärts - auch hier zahle ich noch 600; aber der Raum ist groß und die Dusche heiß und mit breitem Wasserstrahl.

 

Auf der Dachterrasse möchte ich mir eigentlich ein Bier gönnen; aber das kostet hier - dank riesiger 'Alcohol-Tax' 200 Rupies - also gibt es heißen Gingertee mit Garlic-Naan. Ich komme mit einem französischen Pärchen ins Gespräch und begebe mich dann ziemlich geschafft in mein Zimmer.



Am nächsten Morgen schlafe ich aus und verlasse erst gegen 8.30 h das Haus durch enge Gassen hinunter zum Ari Ghat. Noch ist es erträglich warm und ich laufe langsam, aber stetig die 12 Ghats entlang des Flusses bis zum Hauptghat in gut einer Stunde. Natürlich gibt es unterwegs viel zu sehen: Badende im Fluss - vor allem halbnackte Männer, die sich Waschen und Jungs,  die planschen und Saltos ins Wasser schlagen - hier und da Frauen, die komplett mit Sari zwölfmal untertauchen und dann Sari auswringend wieder die Stufen emporsteigen.

An in den Fluss ragenden tischartigen Steinen wird Wäsche gewaschen: Vonehmlich Männer schlagen die Laken und Kleidungsstücke bis zur Hüfte im Wasser stehend immer wieder atf die Steine, bis sie sauber oder auch löchrig sind ; )

 

Anschließend werden sie ausgewrungen und über Treppenstufen oder schräge Böschungsflächen zum Trocknen ausgelegt. Mir ist unklar, wie dabei die Auflagefläche sauber bleiben soll; aber so manches Bettlaken, das mir unterkam, trägt ja auch den entsprechenden Grauschleier ... - Clementine hätte hier mit dem 'Weißen Riesen' viel zu tun ; )

 

Hinterm Hauptghat liegt das Verbennungsghat, wo ich von 'Laladeeh' - 'I don't want money' zu einem sehr schönen nepalesischen kleinen Tempel und durch enge Gassen zu einem Aussichtsturm  gelotst werde. Direkt unter mir sehe ich eine eingewickelte Leiche auf einem Scheiterhaufen, der gerade entzündet wird - Fotographieren verboten.

 

Immer wieder werden verbrennungsbeschleunigende Pulver eingestreut und  golddurchwirkte Papierdecken dazwischen gestopft und recht schnell lodern die Flammen sehr hoch und beginnen ihr Werk. Ungefähr 4 Stunden dauert der Prozess - Hunderte von Leichen werden täglich verbrannt - die Asche wird direkt dem Ganges zugeführt - die Angehörigen hocken irgendwo im Schatten und schauen zu. Säuglinge und Kleinkinder werden ohne Verbrennung in den Fluss geworfen.

 

Später kann ich doch noch ein Foto von der zweiten Turmetage schießen, weil nun kein brennender Körper mehr sichtbar ist. Hinter dem Turm ist Verbrennungsholz mannshoch gestapelt und ich beschenke zwei dort spielende Kinder mit meinen letzten Luftballons.

Noch immer bin ich ohne Frühstück und es ist um 11.00 h brütend heiß - also folge ich immer dem Schild 'Blue Lassi Shop' durch die Altstadt  ... - und Laladeeh folgt mir - noch immer unabschüttelbar, wie ein Hündchen -  'I can show you my shop - very near'. Als ich das 'Blue Lassi' endlich finde, möchte er 'no money - only a Choclate Lassi'.

Das winzige Stübchen ist randvoll mit Touristen aus aller Herren Länder - 'lonely planet'-Empfehlung - die Preise entsprechend; aber das Granatapfel-Lassi aus irdenen Töpfchen ist auch wirklich sehr lecker !
Ich plaudere mit einem jungen Deutschen, der hier vier Monate als 'Volunteer' gearbeitet hat und nun noch zwei Monate herumreist, bevor er nach Hause fährt. Dann verabschiede ich endgültig - wie ich denke - Laladeeh und trete den Rückweg an. Ich esse eine Kleinigkeit und streune an einem kleinen Ganesha-Tempel vorbei Richtung Fluss, als ich plötzlich eine vertraute Stimme höre: 'Namaste, you remember me - I can show you my shop ...'


Innerlich laut fluchend strahle ich Laladeeh an und sage: 'Yes, please, I remember you. You had a Lassi with me and I said 'thank you and good bye' - so please, let me alone now !'
'Ok, ok' nuschelt er und ich warte, bis er wirklich in der Menge verschwunden ist. Der Rückweg zieht sich; meine Wasserflasche ist längst leer - obwohl ich stramm laufe, erreiche ich das Ari Ghat erst gegen 13.30 h und stemme mich mit letzter Kraft bei 40 Grad Celsius die 40 hohen Ghatstufen zum Ghuesthouse hoch.
Volle vier Stunden Zimmererholung gönne ich mir, bevor ich nochmals für 20 Rupies Fahrradrikscha zum Hauptghat aufbreche, denn allabendlich findet hier die Gebetszeremonie statt.

Schläfer oder Leiche ?
 
Auf dem Weg sehe ich an gleicher Stelle wie morgens einen alten Mann bäuchlings auf der Straße liegen - morgens dachte ich noch - wieso schläft der hier in sengender Hitze - jetzt denke ich - er kann nur tot sein - ein leichtes Tuch ist nun über seinen Köper gelegt, den Kopf jedoch frei lassend. Als ich die Stelle am nächsten Morgen zum dritten Mal passiere, ist er nicht mehr da ... - wer wird das Geld für seine Verbrennung aufbringen - oder landet sein Körper einfach im Fluss ?


 


Der Platz am Hauptghat füllt sich langsam mit Menschen. Ich kaufe eine blumengeschmückte Schwimmkerze und bummele runter zum Fluss. In der Dämmerung lasse ich sie in Gedenken an meinen Vater schwimmen und beobachte, wie sie sich im Kreis drehend zwischen die Boote vom Ufer entfernt.

 
Auf den Stufen aufgereiht, wie Perlen auf einer Schnur, sitzen die Sadhus in ihren orangen Gewändern mit ihrer gelb-roten Stirnbemalung und ihren wild wuchernden grau-weißen Bärten.



 

Ein rundes hochwandiges Metallgefäß vor sich aufgestellt warten sie auf Klingelgeld gutes Karma sammelder Kundschaft. Gut gekleidete Damen in Saris und Lederschuhe  tragende Herren gehen die Reihe entlang und lassen die Metalleimerchen scheppern.
Ich suche mir seitlich an einer Mauer einen Sitzplatz und treffe dort auf die freundliche Inderin Sativani, die gut Englisch spricht - in Kanada und Amerika gearbeitet hat und mir viel über Sadhus, Piester und die hinduistische Zeremonie am Ganges erzählt.


Als es dunkel wird, versammeln sich unter den 9 erleuchteten Bogen am Fluss die Priester auf kleinen Plattformen: Eintöniger Trommelgesang ertönt und zum Fluss gewendet, wo viele Gläubige in Booten sitzend der Zeremonie beiwohnen, findet die 'Puja' statt - 30 Minuten lang 352 Tage im Jahr.       


 


Kurz vor Ende bedanke und verabschiede ich mich von Sativani, denn ich möchte die Stufen hoch zurück zur Hauptstraße, bevor die Massen mich über den Haufen rennen, was mir auch gelingt.


Um den Fluss noch einmal vom Boot aus zu erleben, nehme ich früh am nächsten Morgen am Ari Ghat ein Boot, das mich mit vier anderen Touristen bis zum Verbrennungsghat fährt. Ein blassrosa Sonnenaufgang, der in immer intensiveres Orange wechselt, bietet bestes Fotolicht und vom Fluss aus, bin ich nochmal näher am Geschehen. Noch einmal setze ich eine Kerze zu Wasser, die diesmal Platz hat, frei den Fluss hinabzugleiten.

 



Am Hauptghat abgesetzt, fahre ich mit der Rikscha zurück, will bezahlen und auschecken (hier schon um 10.00 h !), doch der Elvis-Chef hat auch beim dritten Nachfragen das bestellte Zugticket nicht parat. Zwei Stunden lässt er mich warten, bevor ich endlich das Ticket bekomme und im 'Café Zoè' um die Ecke ein köstliches 'Aloogobi Kashmiri' (mit Käse gefüllte Kartoffel in rotwürziger Masala-Sauce) bestelle und anschließend einen großen guten Cappucchino bekomme.


Air Condition und WiFi gibt es gratis dazu - ich bleibe volle vier Stunden  und genieße die Kühle und Ruhe, bevor es ins nächste Abenteuer geht: Mit der Motorrikscha zum Bahnhof und per zwölfstündiger Nacht-Zugfahrt nach Khajuraho.

Montag, 7. April 2014

Bodhgaya: Bodhi, Banyan, Bettelbrüder






Mit Karma

beim Morgen-Chai

Aus der Motorrikschaschlacht am Bahnhof gehe ich gefühlt als Sieger hervor: Für 50 Rupies (statt der anfangs geforderten 300 ! - Einheimische zahlen 30) fahre ich mit drei Damen eigezwängt und mit mehreren Zwischenstopps und wechselnden Passagieren los ins 12 km entfernte Bodhgaya.
Als der Fahrer mich vor dem Zentrum rausschmeißen will, weil eine Straßensperre 'oneway' fordert - und er nicht gegen die Einbahnstraße fahren darf - ich könne eine Fahrradrikscha nehmen ! -bleibe ich total entspannt: Ich drücke ihm 30 Rupies in die Hand und will gehen.

 

Als er 50 fordert, sage ich, ja, 50 zum Mahabodhi-Tempel ... - wortlos schmeißt er meinen Rucksack wieder rein und fährt mich über eine staubige Holperstraße im Halbkreis zum Hauptplatz am Tempel - geht doch  - ein innerliches Freudenfest ! Keine 20 m vom Platz in einer kleinen Straße tue ich mit dem 'Happy Guesthouse' einen Glücksgriff: Günstig, relativ ruhig und zentral gelegen, weiches Bett, WiFi im Zimmer - was will frau mehr !


Die nächsten zweieinhalb Tage vergehen wie im Flug, denn ich treffe Lakshman, 27 Jahre, verheiratet, zwei Kinder, Chairman der 'Sarswati School for poor children'. Er will sein Karma aufbessern, indem er diesen Kindern, die sonst keine Schulbildung bekämen, eine Schule baut und dafür sucht er Sponsoren. Er fährt mich mit seinem Motorrad - ich sitze im Damensitz, die Krücke ruht an der rechten Seite entlanggsetreckt auf seinem Lenker - zunächst zum 'Sujata Kuti' dem heiligsten Ort hier überhaupt: In meinen Augen ein überdimensionaler Backsteinhaufen - in Wirklichkeit natürlich der Rest eines ehemals riesigen sehr alten Stupa, das irgendwann von den Muslimen zerstört, von einem Engländer namens Cunningham wiederentdeckt und nun als Pilgerstätte für Tausende buddhistischer Pilger von Bedeutung ist.

Sujata Kuti
Dann zeigt er mir seine Schule mit lauter blaubehemdeten Kindern zwischen 4 und 11 Jahren, die in winzigen Räumen zu 20 bis 30 am Boden sitzen - bei meinem Eintreten hopsen sie alle auf und begrüßen mich im Chor - sie sind offensichtlich darauf trainiert ihre Sponsoren so zu begrüßen.



 
 
Er will mich noch weiter herumfahren - aber ich muss ihm langsam die Illusionen nehmen: Gerne bekommt er einen kleinen Betrag; aber ich sei an einer Art Briefaustausch zwischen unseren Schulen interessiert - in diesem Rahmen könne ich später auch eine Spendenaktion anleiern.
Er ist mir dennoch behilflich ein Fahrrad auszuleihen, mit dem ich dann den ganzen Tag die verschiedenen Tempel und Klöster abradele.


 

Wunderschön ist der bhutanesische Karma Tempel mit den fantastischen Deckenmandalas. Es gibt einen vom Dalai Lama 1989 eingeweihten Big Buddha, ein Tibetisches Kloster, einen Thai Tempel und natürlich den großen Mahabodhi Tempel, an dessen Rückseite der heilige Bodhi-Baum wächst (ein Ableger des Originals). Wie die Kinder warten hier die Mönche, dass ein Windstoß ein paar frische Bodhi-Blätter vom heiligen Baum holt, die sie dann freudig einsammeln.




Mit dem Fahrrad kann ich alles erkunden ohne zu schnell zu ermüden.
Der Markt hinterm Mahabodhi Tempel bietet viele Fotomotive und die Stimmung im Tempel vor Sonnenuntergang ist sehr friedlich.
Ich sehe Nonnen aus Myanmar, Mönche aus Tibet und Thailand in großen Gruppen, japanische Zen-Mönche, Inder - der einzige Europäer, den ich treffe, ist Pole und seit 10 Jahren auf Reisen.


Einige Gläubige vollführen hinten im Garten diese buddhistischen Ganzkörperniederwerfungen: Mit Hilfe von 'Topflappen' auf den Rutschbrettern und Kniepolstern wiederholen sie diese Übungen bis in Bauchlage und über die Knie hochkommend wieder bis zum Stand, dabei Gebete murmelnd, unzählige Male. Zwischen kleinen Stupas spielen Hunde und Mönche meditieren im Schneidersitz.




Vor allen Tempeln sitzen oder stehen vor allem alte Mütterchen und zahnlose Greise und betteln - oft sehe ich Opfer von Kinderlähmung mit gummiartig verbogenen verkrüppelten Beinen - habe ich Kleingeld bei mir, gebe ich jedem dritten ein 2 Rupie-Stück - es sind einfach zu viele ... - fotografieren kann und will ich sie nicht.
Abends bringe ich das Fahrrad zurück, trinke mit Lakshman noch einen Chai und verabrede mich mit ihm morgens um 8.30 h. Er bringt mich 2 km raus aus der Ortschaft zu einem 400 Jahre alten Banyan-Baum (Gummibaum) - der größte und schönste, den ich je gesehen habe - unglaublich, dass er hier einsam mitten im Feld steht.



Das Dorf, das wir auf dem Weg durchfahren ist das ärmlichste, was ich seit langem gesehen habe: Lehmhütten mit Dungfladen an den Wänden zum Trocknen; sie werden getrocknet als Brennmaterial verwendet. Abgerissene schmutzige Kinder auf staubigen Wegen, Abwässer zwischen den Hütten - relativ wenig Müll immerhin.

 
In seinem Dorf lerne ich kurz seine Frau - eine arrangierte Heirat - er wirkt nicht sehr verliebt - und seine Mutter kennen. Sie wohnen zur Miete für 3000 Rupies monatlich - ein Lehrer verdient hier 4000 ... - das Zimmer, in dem er mit seiner Frau und zwei Kindern wohnt, ist ca. 3x4 Meter groß und enthält ein großes Bett, einen Schrank und eine Kommode. Einen Wohnraum gibt es wohl nicht, denn der Chai wird mir auf dem Bett sitzend serviert. Gerne würde ich ein Familienfoto schießen, möchte aber nicht danach fragen.


Zurück vorm Guesthouse möchte er mir doch noch gerne eine Tür für sein in Bau befindliches Schulgebäude aus dem Ärmel leiern (8000 Rupies, ca. 100 Euro); aber ich vertröste ihn auf den Herbst und bedanke mich für seine Hilfe.


Ich schreibe viel nachmittags und gehe abends ins gemütliche 'Shiva' mit Blick auf den Marktplatz essen. Der Zug nach Varanasi geht um 4.30 h oder um 14.30 h am nächsten Tag. Beides nicht gerade günstige Abfahrtzeiten - aber so ist es nun mal.
Bodhgaya hat mir gut gefallen - meine Laufstabilität nimmt langsam zu - alles ist gut - auf nach Varanasi !

Freitag, 4. April 2014

Kurzgeschichte: Zugfahren indisch oder Mit 'Karma' nach Bodhgaya

Der Weg entlang des Zuges war lang - hätte sie bloß nicht gefragt ... - sie wäre einfach in den erstbesten Waggon geklettert; der Rest hätte sich schon gefügt ....

Mit zwanzig Minuten Verspätung war ihr Vorstadt-Zug in Bolpur/Santiniketan nach Bardhaman gestartet und hatte achtzig, statt sechzig Minuten gebraucht - so war ihre gut berechnete Umsteigezeit weggeschmolzen, wie Eis in der Sonne.
Um 9.15 h war die Reisende mit 'Karma' - das ist tatsächlich der Name, der auf ihrer Krücke steht - an der Warteschlange am Ticketschalter vorbeigestöckelt und hatte sich vorgedrängt.
'Sorry, the Express-Train to Gaya leaves in 5 Minutes - I need a ticket, please'. Die Lady hatte ihr tatsächlich sofort ein Ticket ausgestellt - 'Platform one' - nur 150 Rupies; sollten es nicht 250 sein ?
Sie war losgehumpelt zwischen Lastenträgern, vorbei an Schläfern am Boden um Nässepfützen herum - bloß nicht noch ausrutschen - im Slalom durch die Menschenmenge zu Platform one. 9.20 h hatte die Digitalanzeige angezeigt - die Zugnummer war schon angekündigt. Ihr Puls hatte sich ein wenig beruhigt - drei Minuten später war er schwer stöhnend und laut polternd eingerollt:   Der einzige Expresszug nach Varanasi über Gaya - nur 6 stunden Fahrtzeit, statt 9 Stunden mit dem Bummelzug.

Dann hatte sie sicherheitshalber den Inder im rosa Hemd gefragt. Der hatte nur einen Blick auf ihr Ticket geworfen und den Kopf geschüttelt - 'No seat, that's bad, come - you have to go to the last waggon' und schon war er losgerannt, sich immer wieder umwendend und ihr zuwinkend. ... - und sie war ihm gefolgt; so gut es eben ging, was blieb ihr übrig - drei Waggons, vier ... 'Karma hilf, ich kann nicht mehr' - sicher würde der Zug gleich ohne sie abfahren - der Bahnsteig war schon mehr als halb geleert - sie verlor drei Sekunden bei dem Versuch in die nächstbeste Tür hochzuklettern ... - Ein Blick aufs Ticket: 'Sorry, Mam, not here - this is sleeper class - go to the last end ...', sagte der Weißbehemdete und schickte sie weiter. Der erste Pfiff ertönte - 'Come, come here' winkte der Mann im rosa Hemd am Ende des Zuges - also hastete sie weiter und erreichte schweißnass die Tür des vollgestopften Wagens. Drei steile Stufen - Karma sei Dank - schaffte sie es, sich hochzuwuchten und sah ihren Helfer gerade noch im Pulk des Gedränges verschwinden.

Mit breiten Ellbogen bahnt ihr der Mann einen Weg, quetscht sich in den Durchgang ins erste Abteil, das bereits voll besetzt ist, bedeutet den Leuten zusammenzurutschen - sie sieht eine 30 cm Sitzlücke frei werden, aber  bis sie sich mit dem Rucksack durchgequetscht hat und sie erreicht, hat sich bereits ein schmaler weißbekaftanter Alter in die Lücke fallen lassen.
Ihr Stock, ihre Kniemanschette interessiert ihn nicht - er ist alt; wer zuerst kommt , mahlt zuerst. Der Mann im rosa Hemd schimpft auf Hindi - der dicke Mann am Rand der für vier gedachten Sitzbank, auf der bereits fünf Leute sitzen, rutscht nochmal gegen den dürren Alten - eine fünfzehn Zentimeter-Kante wird frei - ihr Sitzplatz !
'Thank you', lächelt sie ergeben und der Mann im rosa Hemd bleibt halbwegs zufrieden neben ihr im Gang stehen.
Ihr halber rechter Oberschenkel findet Platz, den Rucksack stellt sie vor sich zwischen die Beine - den Handrucksack auf die Knie; das linke verletzte Knie steht im Gang und muss den Körper irgendwie auf der Bank halten ... - vor ihr steht noch eine zierliche Inderin mit Kleinkind im Arm, auf der anderen Gangseite ist der Einzelsitzplatz mit einer Kleinfamilie besetzt: Frau am Fenster, Mann mit halber Arschbacke neben sie geklemmt, das Kind auf dem Schoß.
Erst jetzt wird sie gewahr, dass sich in ihrem Achterabteil nicht nur elf Sitzende und drei Stehende drängeln, sondern die massiven Gepäckfächer auf beiden Seiten über ihren Köpfen von fünf jungen Männern besetzt sind. Gegenüber hocken zusammengefaltet mit eingezogenem Kopf, wie die drei Affen, die nichts hören, nichts sehen, nichts sprechen zwei Langhaarige,  der dritte hat die langen Beine barfüßig vorm Fenster ausgestreckt auf der gegenüberliegenden Gepäckablage gegen den einzigen Koffer gestemmt, neben dem noch zwei Halbwüchsige kauern - ein nackter Schmutzfuß baumelt knapp neben ihrem Kopf.
Blitzartig überpfüft ihr unruhiger Blick die Befestigungsschrauben und überschlägt das zu tragende Gewicht - 150 kg je Seite mindestens - nicht auszudenken, wenn die Gepäckablage auf die darunter Sitzenden kracht ... - der Zug ruckelt an - es ist 9.35 Uhr.
Sonst hatte sie es genossen die weite Landschaft an sich vorübergleiten zu sehen - hier war nicht einmal ein Blick durchs Fenster möglich. Wenigstens heißer Fahrtwind dringt jetzt durch die offenen vergitterten Fensterlöcher und die Menge beginnt sich immer besser zu arrangieren. 

Nach zehn Minuten beginnt ihr linkes Bein unter der Dauerbelastung zu kribbeln. Sie dreht sich leicht zur Seite, zieht den rechten Fuß unterm Rucksack raus, schwingt ihn in den Mittelgang und drückt nochmal ein wenig nach hinten. Ihre Sitzfläche beträgt nun gefühlte achtzehn Zentimeter, aber beide Beine stehen nun rechtwinklig im Gang.
Der Zug hat rüttelnd an Fahrt gewonnen und rauscht durch die flirrende Hitze, da kommt Bewegung in die Menge vor ihr. Sich von links durch die Menge nähernd, bietet ein Mann mit Bauchladen, sich aalartig durch den vollgestellten Gang windend, marktschreierisch seine Waren feil. Ein großer, aufgeschnittener, viereckiger Blechkanister, an einem breiten Riemen um den Hals hängend, bildet die Basis für ein Dutzend aufgeschnittener, ehemaliger Plastikwasserflaschen, die nun halbiert Gewürze, gehackte Zwiebel- und Gurkenstückchen, Kräuter, getrocknete Kerne und andere undefinierbare Zutaten enthalten.

Die Reisende kann es kaum fassen - will der wirklich hier durch ? Unauffällig schiebt sie die Krücke vor. Ein Mann rechts von ihr im Pulk stehend ordert per Handzeichen und Zuruf; Geld wird durch die Menge weitergereicht. In fixem Tempo zieht der Verkäufer ein aus Zeitungspapier geklebtes Tütchen hervor, wirft ein halbes Dutzend der Zutaten in einen metallenen Mischbehälter in der Mitte, träufelt ein paar Tropfen Öl dazu, eine Prise dieses und jenes Gewürzes, mixt mit einem Stab kurz durch, füllt das Ganze ins Papiertütchen und reicht es über die Köpfe hinweg weiter.
Eine Weile ruft er noch; dann wendet er und schiebt durch den Gang zurück. Das Kind der Kleinfamilie ist eingeschlafen, die ältere Frau im Gang ist langsam in die Hocke gesunken; der Zug rüttelt unaufhaltsam durch die Hitze. Die Reisende schließt die Augen und versucht sich zu entspannen - du hast einen Sitzplatz, sagt sie sich, sei froh darüber - eine halbe Stunde ist schon vorbei. Sie döst ein wenig - rattatarum, rattatarat - als ein schriller Pfiff sie aufschreckt. Fauchend fährt der Zug in den nächsten Bahnhof ein und noch bevor die Räder quietschend zum Stillstand kommen, erfüllt Bewegung die träge Menschenmasse.

'Ok, I go to my seat now, good luck to you, take care', sagt der Mann im rosa Hemd nun plötzlich zu ihr - und während er sich schon geübt nach rechts schlängelt, wird ihr erstmals klar, dass er eine halbe Stunde in diesem irren Chaos zugebracht hat, nur um ihr zu helfen und dass er eine Sitzplatzreservierung in einem anderen Wagen hat.
'Yes, thank you, thanks a lot', ruft sie ihm nach, aber ihren Blicken ist er schon entschwunden. Von links pressen sich zwei junge Männer - die Taschen auf den Köpfen getürmt - mit storchenstelzartigen Schritten durch die Menge und über ihr Knie schiebend, vor der hockenden Frau, die sich aufrichtet, hinter dem Salatesser und weiter zur Tür durch; während von dort schon die Einsteigenden drängen und unter lautem Geschrei und Gezerre vorzudringen versuchen ... - ohne Rücksicht auf Verluste.

Taschen werden über Kopf weitergereicht - wohin bloß, wohin ? Die Gepäckablagen sind voll, die Sitze, der Gang ebenfalls - auf drei, die aussteigen, kommen acht, die zusteigen.
Zwei Frauen, vier Kinder und zwei Männer erscheinen in ihrem Blickfeld. Einer steigt rabiat voran, reicht das erste Kind dem Mann neben ihr ins Abteil, der es wortlos auf den Schoß nimmt. Ein vielleicht Sechsjähriger wird über sie ins Gepäckfach geschoben - er lässt es willenlos geschehen. Die drei Stehenden im Abteil rücken noch enger zusammen, so dass die Frau mit dem Kleinkind noch einen Stehplatz findet. Das vierte Kind, ein Mädchen, wird auf den Rucksack der Reisenden gesetzt - sie erhebt keinen Einspruch. Als der Zug anfährt, fällt jemand gegen ihr Knie. 'Careful, my knee, please  !' ...
Wieder dauert es gut zehn Minuten, bevor die Menge sich zurechtgerüttelt, angepasst, eingerichtet, abgesetzt und umgelagert hat - unglaublich, dass es möglich ist !


Kein Mensch glaubt ihr das, denkt sie, ein Foto ... - wie kann sie ein Foto schießen ? Ihre Augen schweifen durchs Abteil, in dem sich nun 15 Erwachsene, 4 Kinder und 5 Gepäckfachsitzer befinden. Im Gang stehen mindestens weitere sechs Leute eng gepresst - ein alter Mann ist über seiner Tasche in die Knie geklappt, wie ein geschlossener Regenschirm. Sie zieht die Kamera raus, hält sie links schräg über sich und drückt ab - das Foto ist katastrophal schlecht. Ein Mann grinst - sie grinst zurück und packt den Foto weg - die Kinder starren sie ernst mit unverhohlener Neugier an.

Die Reisende lächelt und zaubert aus ihrem kleinen Stoffanhänger am Handrucksack einen blauen Luftballon hervor und gibt ihn dem Mädchen neben sich. Die Kleine strahlt, die Schwester guckt starr vor sich hin. Als sie einen roten Ballon erhält, lächelt sie schüchtern - was sie mit dem Ballon machen soll, weiß sie nicht so recht.
Ein grüner Ballon wird aufgeblasen und dem Zweijährigen gereicht. Er krallt mit seinen Patschehändchen zu und beißt sofort hinein - einige lächeln - na also, denkt sie, alles ist gut; sie schielt auf die Uhr und kann es nicht fassen - erst 10.50 h - die Luft ist zum Zerschneiden schwer und heiß. Sie zieht die Wasserflasche aus dem Handgepäck und  trinkt - mein Gott ist die Brühe warm, denkt sie.

Lärm aus dem Nachbarabteil hinter ihr: Lautes Gezeter - natürlich versteht sie kein Wort. Sie versucht um die Ecke zu schauen - zwecklos - die  im Gang eng gedrängt Stehenden versperren ihr die Sicht. Irgendwann kehrt wieder Ruhe ein und sie versucht erneut zu dösen. Ploff - der Kleine hat den Luftballon zerplatzt. Kein Geschrei - er schaut nur erstaunt. Pausenlos drängen sich Schlangenmenschen durch den Gang über ihr Knie, um winzige Bonbontütchen, Kämme, Haarspangen, Sicherheitsnadeln, Chai oder geviertelte Gurken zu verkaufen. Andere schlängeln sich durch um zur offenen Zugtür rauszupinkeln - ein Klo hat sie hier nicht gesehen -  oder eine bessere Startposition im nächsten Bahnhof zu ergattern.
Nach gefühlten zweihundert Knieübersteigungen gibt sie ihr 'careful, please' auf; sie döst dennoch eine  Weile  - eine ewige Zeit, wie ihr scheint - der nächste Bahnhof kommt. Erneutes Gezerre, Geschiebe, Gerufe, Getrampel. Kinder werden weitergereicht, wie Melonen auf dem Wochenmarkt - nicht einmal hört sie eines schreien - ein Wunder !
Leute kommen, drängen, sitzen, stehen, steigen, schieben, klettern, drücken ... - ' How many Stations to Gaya ?', hört sie sich fragen.
'Five', sagt jemand, sie kann es nicht fassen - noch immer fünf Stationen - es ist 11.40 h. Sie spürt ihre Sitzhöcker schmerzhaft; gerne würde sie mal aufstehen, sich bewegen; aber sie ist kein Schlangenmensch und der Sitzplatz wäre sofort weg und wo soll sie schon hin - sie hat keine Sitzplatzreservierung ... - 'you can do it, if you really want' - die aderen schaffen das doch auch, sagt sie sich. Sie hat solchen Durst; aber die Wasserbrühe ist so warm ... - und was ist, wenn sie dann zur Toilette muss ... ?
Wieder nickt sie ein wenig - rattataram, rattatarat - der Zug wird langsamer, eine Hitzewelle erfasst sie plötzlich - sie sieht auf die Uhr - 12.30 h - drei Stunden; drei Stunden hat sie das ausgehalten - aber drei Stunden liegen noch vor ihr ! Die Erkenntnis trifft sie wie ein Schlag !
Sie springt auf und ist über ihre Kraft erstaunt, mit der sie den Rucksack auf ihre Schulter zerrt. Der Zug steht. 'I have to go out', ruft sie vorwärts drückend, 'please, I have to go out of here', wiederholt sie - nimmt noch den erstaunten Blick des Dicken neben ihr mit -  und kommt auf wunderbare Weise der Tür näher.

Dann steht sie auf dem Bahnsteig - allein - wie hat sie die steilen Stufen geschafft ? Schnell vor zum nächsten Wagen, befiehlt sie sich - doch die Tür ist verriegelt. Sie probiert den Hebel zu öffnen - keine Chance; nichts rührt sich. Aus den Augenwinkeln nimmt die Reisende die Gaffer wahr, die aus der offenen Zugtür des eben verlassenen Wagens zu ihr rüberschauen.
Sie beginnt an die Tür zu hämmern - 'please, open the door', ruft sie und hämmert weiter - 'open the door' ... - und die Tür öffnet sich. Ein Zugangestellter hilft ihr einsteigen - sie ist beim Service-Personal gelandet.
Kühle Luft schlägt ihr entgegen - sie atmet tief durch; merkt jetzt erst, wie erschöpft sie ist; stolpert hinter dem Mann her, der sie in den nächsten Wagen, einen 'Sleeper' mit Aircondition führt. 'Sit down' , sagt er. Mein Gott, denkt sie, alles leer hier, lauter freie Sitze ... - sie schließt die Augen und atmet tief durch - die Kühle, die Ruhe, die Leere, wie herrlich !
'What's your problem', schreckt sie eine Stimme hoch. Der Weißbefrackte mit Passagierliste hat hier wohl das Sagen. Als sie ihm ihr Problem schildert und er ihr Ticket anschaut, verzieht er keine Miene. Kurz spricht er mit dem Stewart und teilt der Reisenden dann  mit, sie könne in den ersten Wagen vorlaufen  zum 'Ordinary Sleeper'.

Sie bedankt sich und lässt sich Zeit dem Mann hinterherzulaufen, der ihr die Türen aufhält; denn die Luft ist so wundervoll kühl. Im Speisewagen weist er nach vorne und lässt sie stehen. Sie lässt sich zwei Pakora einpacken, läuft zum nächsten Wagen, wo die stickige Luft sie wie eine heiße Wand empfängt und setzt sich zu einer Großfamilie neben eine junge Frau. Es ist 12.50 h. Durch den leeren Gang kommt ein Getränkeverkäufer geschlendert. Sie kauft ihm einen eiskalten Mangosaft ab und trinkt in langen Zügen. Sie isst ihr Pakora und leert die Flasche im zweiten langen Zug - langsam wird sie innerlich ruhig.

Sie blickte zum Fenster hinaus, wo eine herrliche baumbestandene hügelige Landschaft an ihr vorüber zog. Hellorange leuchteten die blühenden Flammenbäume - kein Dorf, kein Lärm, kein Mensch, kein Dreck - nur Landschaft. Sie genoss den Anblick eine Weile, doch immer wieder fielen ihr nun die Augen zu.
Als der Zug langsamer fuhr, schlug sie die Augen auf und sah auf die Uhr. Mein Gott, schon 14.55 h - sie musste bald da sein. 'What's the next Station - next Station Gaya ?', fragte sie in die Runde. 'Yes, next Station Gaya', lächelte der Mann gegenüber.
Als der Zug kurz darauf hielt, fühlte sie sich relativ erholt. Den Rucksack hinten, das Handgepäck vorne, die Krücke rechts haltend
Sie schwang die Krücke vor, fuchtelte dem nächsten Anstürmenden damit vor die Augen und rief: 'Don't move, let me go out of here first !'

Dann setzte sie die Krücke tiefer, hopste auf den Bahnsteig, lief gemächlich durch die Vorhalle zum Ausgang und stellte sich furchtlos der Meute von lauernden Taxifahrern, von denen sie nur einer, nämlich der, mit realistischen Preisvorstellungen, einer, der sie nur ein bisschen übervorteilen würde, nach Bodhgaya bringen würde - dessen war sie sicher.   wollte sie aussteigen, als ihr auch schon hemmungslos vorwärts pressend eine Menschenmenge entgegenstürmte. Kaum schaffte sie es dem Gegenstrom standzuhalten und als sie der Tür endlich näher kam, hatte sie Angst steil vornüberzufallen, wenn der Druck plötzlich nachließe.

Sie schwang die Krücke vor, fuchtelte dem nächsten Anstürmenden damit vor die Augen und rief: 'Don't move, let me go out of here first !'
Dann setzte sie die Krücke tiefer, hopste auf den Bahnsteig, lief gemächlich durch die Vorhalle zum Ausgang und stellte sich furchtlos der Meute von lauernden Taxifahrern, von denen sie nur einer, nämlich der, mit realistischen Preisvorstellungen, einer, der sie nur ein bisschen übervorteilen würde, nach Bodhgaya bringen würde - dessen war sie sicher.   


Santiniketan: Universitätsstadt ohne WiFi

Alleine dreißig Minuten brauche ich bis zur Kreuzung, an der die richtien Busse fahren; denn von der Parkstreet geht es nochmal 500 Meter die Straße hoch. Für 7 Rps erreiche ich die Railwaystation, kaufe problemlos für 70 Rps ein Zugticket für die 137 km lange Strecke - frage mich durch zum Gleis 7 und besteige den letzten Waggon im 'Ladies-Compartement', das - fast verwaist - eine Menge Platz bietet. Ziemlich viel 7, wenn das kein gutes Omen ist   ; )

Ladies-Compartement - schöööön leer !

 Die Zugfahrt ist dann auch herrlich entspannt und zügiger, als gedacht. Der Expresszug hält höchstens an jeder fünften Station und es gibt viel zu sehen: Nach einer Stunde lässt der Zug die Vororte Kolkatas hinter sich und die Landschaft huscht tellerflach, herrlich reisfeldgrün und relativ menschenleer vorbei.

 
In den Dörfern entlang der Strecke waschen Frauen Wäsche, arbeiten in den Reisfeldern, kochen und hüten Kinder; Männer schleppen Reisstroh, pinkeln an Häuserwände, ziehen Karren und schleppen Säcke; während Kinder in blasslila Wasserlilienlöchern planschen, Hunde jagen oder mit Reifen spielen.

 

An den Stationen sitzen Frauen in Gruppen auf Bänken, während Männer in großer Zahl überall schlendern, eilen, rumstehen oder telefonieren. Frauen, wie Männer mit Chipstüten, Pakora-Päckchen, Chaikannen, Salat-Bauchläden, Hauswarenartikeln und Getränken aller Art laufen ihre Ware anpreisend über Bahnsteige und durch die Züge - Zeit ist Geld - der Zug fährt gleich weiter !

 



So verbringe ich dreieinhalb vergnügliche ruhige Stunden im Zug und erreiche um 12.07 Uhr Bolpur/Santiniketan, nicht ahnend, was mich hier erwartet - denn schließlich ist das doch eine Universitätsstadt - die Stadt des berühmten Lyrikers Rabindranath Tagore.

Zehn Taxifahrer und Rikscha-Radler stürzen sich auf mich - die Preise sind unverschämt - 200 Rps - meine Krücke tut ein Übriges ! Ich weiß von Miza die Preise und frage, wer für 40 Rps fährt - ein Schlitzohr mit Fahrradrikscha erhält den Zuschlag und verspricht mich zur 'Bolpur Lodge' zu bringen; als er jedoch herausbekommt, dass ich nicht vorgebucht habe, versucht er mich 'vorher' loszuwerden - das alte Spiel: Beim Hotel des Bruders, Schwagers oder Onkels !

Ich beharre zunächst auf meinem Ziel, habe aber den Verdacht, dass diese Lodge außerhalb liegt. Nach zwei kurzen Stopps an anderen Hotels, die ich als unattraktiv oder zu teuer verwerfe, hält er am 'Santiniketan Lodging Centre' - 'Nomen est Omen', denke ich, und das Zimmer ist für den Preis ok; aber später stellt sich heraus, dass ich alles andere, als im Zentrum bin - sofern es das überhaupt gibt.

'Heilige Kuh' in Santiniketan

Eineinhalb Stunden verbringe ich straßauf, straßab eine 'Citymap', ein Internet-Café, ein Restaurant, einen Laden, einen Fahradverleih zu finden: Vergeblich ! Fünf Pakoras am Straßenrand stillen den schlimmsten Hunger. Selbst ein Bier ist nur 15 Gehminuten entfernt zu haben - die Fahrradrikscha soll 100 Rps kosten - ich 'stöckele' lachend davon !
Nach zwei Stunden Zimmersiesta und einem Telefonat mit Miza, nehme ich mir für 70 Rps 'go and return' eine Rikscha nach Rantampalli (University Area 2 km) - schmuddelige kleine Gebäude in umzäuntem Areal - zum Café 'Alcha', wo es WiFi geben soll; aber weit gefehlt - trotz Frage und vorherigen Bejahens - kaum habe ich Sandwich und Eistee bestellt, ist kein Netz verfügbar ! Ich explodiere kurzzeitig, was wenig hilft und würge wütend Toast und Tee runter, als ein Studentenpärchen eintrifft. Ich spreche sie an und das Mädel strahlt herzlich und entschuldigend, während sie mir mitteilt, dass WiFi hier nur in der Studentenbibliothek zu haben ist.
Dann ist sie äußerst hilfreich beim Heraussuchen einer Zugverbindung per indischem 'Mobile' - denn ich habe spontan beschlossen, diesen merkwürdigen Ort schon am nächsten Tag zu verlassen.


... so liegt man !
Wie man sich bettet ...





Leider muss ich mit dem Zug erst zurück nach Bardhaman; aber von dort geht um 9.20 h der 'Poorva Express' in sechs Stunden nach Gaya, meinem nächsten Ziel. Sie empfiehlt mir in einer 'Agency' in der Nähe prüfen zu lassen, ob ich vorbuchen muss oder nicht - nur wenn es ein 'Ladies-Compartement' gibt, sei dies nicht nötig.
Ich bedanke mich herzlich, checke das und erhalte nach einem Anruf des Herrn die Auskunft, ein Ladies- Abteil sei vorhanden - was sich als falsch erweisen wird ! Gegen 18.00 h bin ich zurück am Hotel, bestelle den Rikschafahrer für 7.45 h am nächsten Morgen und ziehe mich - wieder eine Erfahrung reicher - mit Eispack und 'Kingsfisher' (mit Aufpreis im Hotel geordert) ins Zimmer zurück.

Nix wie weg: Morning-Coffee



Wie sagt Rabindranath Tagore so schön: Der Strom der Wahrheit fließt durch Kanäle von Irrtümern !
Wohl wahr: Hatte ich mir eine gemütliche, gebildete, kleine Universitätsstadt vorgestellt; so stoße ich hier doch auf jede Menge Irrtümer und Ungereimtheiten - aber eigentlich wollte ich hier im familiären Rahmen Holi feiern - und DER Zug ist halt abgefahren !
 

Eingeigelt: 200 Qudratmeter Kolkata


Am 29. März passiert das, was niemals wieder passieren sollte ...

Indisches Museum Kolkata

Zunächst besuche ich morgens das Indische Museum, das eine moderne schön angelegte Ausstellung zu einzelnen Tempelfunden in Indien bietet: Sandsteinfiguren mit Darstellungen von Shiva, Ganesha und Buddha in großer Zahl und gut ausgeleuchtet; auch Textilien aller Arten, sowie Elfenbein- und Holzschnitzkunst aus verschiedenen Epochen - wunderschön ; )





Die erdgeschichtliche und zoologische Abteilung scheint dafür noch im Originalzustand aus der Zeit der Museumsöffnung zu verharren - das 200jährige Jubiläum wird gefeiert: Erbärmlich mottenzerfressene Löwen, zerrupfte Geier, verstaubte Vögel aller Art starren blicklos durch milchige Vitrinenscheiben. Ein großer Raum scheußlich schlecht beleuchtet birgt riesige schwere Holz-Tischvitrinen mit blinden Scheiben unter denen mineralisch Fossiles vermutet werden kann.



Auf dem Rückweg telefoniere ich mit Miza, dem Couchsurfer, um mich für den nächsten Tag anzukündigen. Dann treffe ich auf Jean-Claude und Brigitte, die Schweizer von der Sundarbantour und wir verabreden uns für 17.30 h - sie wollen zum Victoria Monument, wo eine 'Historical Lightshow' stattfinden soll.
Zwei Stunden verbummele ich mit Schreiben; dann ziehen wir los mit Metro und weiter zu Fuß - holen viel zu früh Karten - nur 20 Rupies ? ... es ist verdächtig leer !

 

Eine Stunde später wissen wir warum: Auf winziger Leinwand vor dem erhabenen Victoria Monument, aber halbleeren Stuhlreihen,  werden zu englischem Geschichtsgeplauder über die Kolonial- und Folgezeit Kolkatas ein paar blasse schwarz-weiß Aufnahmen gezeigt, immer mal mit rot grünen Lichtern in den Bäumen oder am Gebäude erhellt und mit dramatischer Musik untermalt.
Zweimal bin ich am Einnicken; dann ist es vorbei. Technisch ist Indien wohl doch trotz wachsender Computerbranche noch nicht ganz im Beamer-Zeitalter angekommen ; )   
Eine Präsentation dieser Art wäre in der Realschulprüfung jedenfalls durchgefallen ; )



Auf dem Rückweg von der Metro zur Sudderstreet quatscht mich ein Buchhändler am Straßenrand an - ich lasse mich ablenken, drehe mich rum 'I'm Malala' fällt mir ins Auge, das Buch, das ich zu Hause liegen habe ... - ich hätte einfach stehen bleiben können ... - aber   die nächsten beiden Schritte sind erstmal meine letzten: Der Bordsteinkante nicht gewahr werdend tritt mein linker Fuß mit der Spitze nach unten die Ferse bleibt oben und ich liege schreiend auf der Straße - das Knie ist wiedermal weggebrochen - der Schmerz unbeschreiblich ...
Eine Menschentraube bildet sich - Brigitte bemüht sich - nach geraumer Weile erst kann ich mich aufsetzen ... - 'aus der Traum' ist mein erster Gedanke !

Ein Stück versuche ich zu humpeln, dann bringt mich eine Fahrradrikscha die 200 m zum Hotel 'Maria' zurück - Brigitte verspricht morgens nach mir zu schauen - ich schlafe schlecht.
Morgens ist dann die Schwellung natürlich da und die Bewegungseinschränkung größer, als abends. Ich verbringe zwei Tage im 200m - Dreieck zwischen 'Jojo's' ( Frühstück + WiFi ) , Hotel 'Galaxy', in das ich mit Tragehilfe von Jean-Claude umziehe, weil es ein schönes sauberes Zimmer mit weicher Matratze hat und dem kleinen Supermarkt, der mir Kekse, Wasser und Klopapier beschert.

Am ersten Tag schaffe ich es mit 'Dileehs' Hilfe (ein schmutziges arbeitsloses Kerlchen, das Englisch spricht und gerne Trinkgelder für Gefälligkeiten kassiert) per Taxi einen 2 Meter breiten Laden aufzusuchen, in dem ich für knapp 2000 Rupies (teuer für Indien; noch immer billig für Deutschland) eine Knie-Manschette und eine Krücke (Made in France) erstehe. Am zweiten Tag schaffe ich es schon zu Fuß zu einem anderen Lädchen, wo ich eine Sportsalbe und ein Eispack kaufe. Nebenbei lese ich ein köstliches Buch von Alex
Capus ...





'Never give up' - ist die Devise - das Knie könnte dicker sein ! - denke ich am zweiten Tag.
Ich mache zaghafte Übungen, kühle, lese, schreibe, esse, trinke, schlafe - und beschließe am nächsten Tag weiterzureisen, obwohl sich die Wege von Miza und mir dann nur im Zug kreuzen werden; denn er wird nach Kolkata kommen, während ich nach Santiniketan fahre - aber er hat mir angedeutet, dass der Hintergrund des Unfalls seines Vaters politischer Natur sei, so dass ich ohnehin nicht mehr allzusehr auf ihn baue, weil er sich um so vieles 'kümmern' muss, in das er mich nicht 'verwickeln' will ... - und meine Zeituhr läuft unbarmherzig weiter ... !

Traveller-Lyrik an der Zimmerwand im 'Maria'
 Nach erholsamer Nacht packe ich den leichten 7,5 kg Rucksack nach hinten, den 4,5 kg Handrucksack nach vorn, die Knie-Manschette sitzt links unten, die Krücke halte ich rechts oben und los geht es zur Bushaltestelle an der Parkstreet, wo ich einen Bus zur 'Howrah-Railwaystation' erwischen muss, um den Zug nach Santiniketan zu nehmen.