Dienstag, 22. April 2014

Irrwitziges Indien: Monatsrückblick IX

Gemessen an der großartigen Vergangenheit scheint Indien gerade ins Steinzeitalter zurückzufallen. Seit drei Wochen bin ich nun unterwegs und wohin ich auch schaue, ist es das gleiche Bild: Alte Tempel und Paläste zeugen von reichen und künstlerisch großartigen Kulturen - und verfallen in schändlicher Weise. Im täglichen Straßenbild der Gegenwart herrschen Chaos und Lärm, Armut und Schmutz, Zerfall und Gleichgültigkeit vor.
Die meisten Menschen, die ich treffe, sind zunächst taxierend auf ihr Geschäft bedacht - viele sind auch einfach neugierig und freundlich (Zugfahrten!).

 

Allein zur Kommunikation bedarf es der englischen Sprache; also einer gewissen Bildung - dann entstehen interessante Gespräche. Nie fühlte ich mich bedroht - nur manches Mal übervorteilt; aber immer muss frau feilschen und kämpfen um Preise, Respekt und Abstand - was auf Dauer äußerst kräftezehrend ist.        Oft blitzt auch ein wenig 'kolonialer' Respekt durch, der mich irritiert: 'Can I help you, Ma'm' - da fehlt nur noch das Ma'm-Sahib ... - oder ist das mein zunehmendes Alter ?  Zwei Mal wurde ich 'Baba' genannt - sehr bedenklich, wie ich finde ; )
Andererseits bin ich eben nur 'on the rail' unterwegs: Auf Bahnhöfen, in einfachen Hotels, an Straßenständen bewegen sich nun mal bloß die einfachen Leute - gutsituierte fahren im eigenen Auto, nehmen den Flieger oder den Luxuszug.
Der Kinderreichtum ist noch immer groß - auch wenn angeblich Hindufamilien nur mehr zwei bis drei Kinder haben. Moslemische Familien, die nur 20% der Bevölkerung ausmachen und 'aufholen' wollen, wie Pradeep sagte, seien mit vier bis fünf Kindern oft auf dem Land lebend ungebildeter, als Hindus. Er ist Hindu und will gar keine Familie ; )


Es gibt traurig viele Bettler und Verkrüppelte (Kinderlähmung), die ihr Leben auf der Straße fristen, bis sie dort vermutlich auch sterben. Dennoch erhalten sie nach meiner Beobachtung so regelmäßig etwas, dass sie damit 'überleben' können. Wen ich nicht getroffen habe, das sind die reichen Inder; die Allerreichsten leben im Ausland, sitzen in Dehli, Mumbai und anderen Großstädten in ihren Glaspalästen, wie ... - ja vielleicht wie Jahrhunderte zuvor die Moghule und Maharadschas, die eben auch nur reich werden konnten, weil das Armutsgefälle hinter ihnen stand. Hat sich also gar nicht so viel verändert ?

 

Das Müllaufkommen gemessen an den Zahlen der Bevölkerung ist sicherlich pro Kopf viel geringer, als in Deutschland - dennoch stinkt es hier mehr zum Himmel, weil es einfach rumliegt ! Jeder kehrt vor seiner Hütte oder Tür, vorm Obststand, vor der Chai-Bude den Dreck zusammen auf ein Häufchen - einen Teil fressen die Kühe, Ziegen, Hunde und Schweine, die nur deshalb heilig sind, weil sie die billigsten Müllschlucker sind ; ) - da bin ich sicher - und die nur deshalb nicht selbst gegessen werden, weil sie völlig müllkontaminiert sind und ihr Verzehr sicherlich schädlich für den Menschen wäre !



Den Müll, der dann noch übrig bleibt, der wird in die Gosse gekehrt, wo er vor sich hin gärt - oder er wird am Staßenrand verbrannt. Kolkata, die mit Abstand sauberste Stadt (zumindest im Zentrum), die ich in Indien gesehen habe, sammelt den Müll eben auf riesiger Halde und ist zwangsläufig um Receicling bemüht. Supermärkte mit Plastikverpackungen habe ich nirgends gesehen, denn dazu gibt es vermutlich gar nicht genug Kühlschränke.

Aloo Gobi Kashmiri mit Lassi

Kühlschränke sind entlang der Straße mit Wasser, Cola und Sprite zum Verkauf gefüllt. Einfache Privathäuser in den Altstadtgassen haben sicherlich keinen - da wird das frisch Geschlachtete in Milch auf dem Steinboden gewälzt und verkocht oder in Salz gewälzt zum Trocknen aufgehängt. Überhaupt sieht frau hier nur ganz selten Fleisch - kein Vergleich zu Südostasien. Die allermeisten Gerichte bestehen aus Fettgebackenem verschiedenster Art, Gemüsen, Linsen-, Erbsen- und Kartoffelgerichten mit vielen verschiedenen Saucen. Selbst Reis ist hier eher Nebensache.






 
Männer unterscheidet frau in vier Gesellschaftsklassen nach den Schuhen und Zähnen:                                 

- Barfuß, schmutzige, zerrissene Kleidung, sehr schlechte oder keine  Zähne = unterste Schicht, arbeitslos, Leben auf der Straße
- Flip-Flops, Plastikschlappen, einfache Kleidung, T-Shirt , braun-rote Zähne = Gelegenheitsjobs, Rikschafahrer, Straßenhändler, Laufburschen
- Turnschuhe/Lederschuhe (altersabhängig), Jeans/Stoffhose, Hemd, leicht verfärbte    Zähne = Studenten,  Angestellte, Ladenbesitzer
- glänzende Lederschuhe, Anzug, Uhr, i-phone, weiße Zähne/ Goldzähne= Geschäftsleute ...


Frauen in westlicher Kleidung habe ich nirgends gesehen; bestenfalls Jugendliche in Großstädten mit Jeans. An der Qualität der Saris, des Schmucks (Armreifen, Ringe, Nasenpiercings) und des Makeups, sowie der Figur (je dünner, je ärmer) lässt sich der Stand leicht zuordnen.  
Internet gibt es nur in größeren Städten in Internetcafés oder AIr-Con-Restaurants. Selbst Hotels haben meistens keinen Netzanschluss - eher selten englische Fernsehsender ! Der Auto-Individualverkehr ist noch immer die Ausnahme. Busse, Motorrikschas, Taxis, dicke Motorräder, großrädrige Gemüsekarren und Fußgänger prägen das Straßenbild. Die Hupgeräusche snd deutlich penetranter, schriller und unerträglich lauter, als in allen südostasiatischen Ländern zusammen - tja, was ist dann toll an Indien ?


Toll ist die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, mit der die Menschen den ganzen Irrwitz tragen, leben, mitgestalten, sich freuen, aussitzen, resignieren und täglich neu durchhalten.
Toll ist, dass dennoch die meisten extra einzufordernden Handtücher im Hotel frisch riechen und frau fast überall eine einzelne Klopapierrolle erwerben kann.
Toll ist, dass ein 25-Jähriger das Abendessen im Haus eines Freundes schmeißt, um mich zum Arzt zu fahren und dass ein sofortiger Arztbesuch mit sofort erhältlichen Medikamenten äußerst günstig möglich ist .
Toll ist, dass es auf der Straße immer hilfsbereite Leute gibt, die zumindest versuchen frau weiterzuhelfen - egal wie.
Toll ist, dass es sehr freundliche, geduldige, stets umsorgte Kinder gibt, die nie quengeln oder unnötig schreien; vielleicht weil sie immer in engem Körperkontakt zur  Familie  stehen.
Toll ist, dass mindestens drei Leute, mit denen ich sprach, einräumen, der Frau müsse ein höherer Stellenwert in der Gesellschaft eingeräumt werden - aaaaaber die Tradition ... , das sei  halt so schwer zu ändern - denn noch immer 'bohren die Inder ihre Kinder in einen Kasten, aus dem sie ein Leben lang nicht rauskommen!' (Schüleraufsatz-Zitat, Falkschule 1988)
Toll ist, dass ich trotz erneuten Knieschadens weitergereist bin; dabei hat mir Indien geholfen - denn wie klein ist mein Knieproblem zu den Problemen Indiens ?


Sieben sichere Anzeichen dafür, dass frau sich in Indien befindet:

1. Männer, die im Stehen oder Hocken an Hauswände, ins Grüne, auf die Gleise, in den    Rinnstein, aus dem fahrenden Zug und ins offene Feuer pinkeln.
2. Männer, die überall Kat kauen und den Saft im hohen Bogen auf die Straße, aus dem Busfenster, aus dem Zugfenster, über die Schulter, auf die Straße spucken.
3. Frauen, die Krüge, Warenkörbe, Feuerholz, Reisstroh, Taschen, Pakete auf dem Kopf transportieren und dabei womöglich noch Kleinkinder auf der Hüfte tragen.
4. Kinder, die auf Gepäckablagen in Zügen, am Bahnsteig auf Koffern, vor Läden neben Hunden, über der Schulter des Vaters, im Schoß der Mutter in Lärm und Chaos friedlich schlafen.
5. Verkrüppelte, Blinde, alte Männer und Frauen, die faltig, gebückt, humpelnd und zahnlos an Straßenrändern, in Bahnhöfen, vor Tempeln sitzen und betteln.
6. Frauen und Männer mit roten Punkten zwischen den Augen, die mit Blumenketten, Räucherstäbchen und anderen Gaben in Tempeln den Göttern Kali, Vishnu und Shiva opfern.
7. Papiere, die frau beim Einchecken ins Hotel, Kauf eines Zugtickets, Einholen einer Information im Tourist-Office ausfüllen muss: Name, Wohnadresse, Geschlecht, Alter, angereist aus/Weiterreise nach, Passnummer, Visanummer, Datum, Unterschrift - es lebe die Bürokratie !


Sieben Überlebenstipps auf indischen Straßen/Bahnhöfen und in Hotels:

1. Sich niemals während des Laufens nach hinten umschauen -auch nicht für Sekunden !  Der nächste Schritt könnte in einem Loch, offenen Abwasserkanal, auf einem am Boden liegenden Hund (gerne liegen sie direkt im 'Schatten' hoher Bordsteinkanten !), im Kuhfladen oder Müll landen.

2. Niemals nach dem Preis für eine Motorrikscha fragen - das zeugt von Unwissenheit ! Besser vorher im Hotel oder am Straßenstand fragen und dann selbstsicher Preis und  Zielort  nennen, das reduziert Preis und Verhandlungszeit ! Während der Fahrt dem Gegenverkehr entspannt ins Auge blicken und die Ohren auf 'taub' schalten ! (Zur Unterhaltung und Huplärmübertönung drehen manche Fahrer freundlicherweise noch die Stereoboxen mit exotisch indischen Nervenkillerklängen auf !)

3. Zugfahrten als Teil der Reise genießen ; )                                                                                Express-Züge sind meist doppelt so schnell, wie Busse. Hat frau das komplizierte Ticket-Netz erstmal durchschaut, ist es Kinderleicht:
General-Ticket: Einer zwischen allen - alle zusammengepresst - ... und einer passt immer noch dazu - offene vergitterte Fenster, offene Zugtüren, aus denen die fitesten raushängen. Preisbeispiel: Express, 6 Std. Fahrt, ca. 400 km für 150 Rps. (keine 2 Euro)
Sleeper mit Sitz: Nummerierte Sechser-Bänke, bzw. zwei gegenüberliegende Sitze am Gang - nachts als dreistöckige Liegen belegbar. Schiebefenster, kleine Deckenventilatoren. Preisbeispiel: Nachtzug, 11 Std. Fahrt, ca. 450 km für 235 Rps. (3 Euro) 
Sleeper-Class 1st, 2cnd, 3rd mit Sitz und A/C: Einfache Polsterbänke - nachts mit Kissen und Laken, Schiebefenster AC und Ventilatoren, letztere selbst ausschaltbar. Preisbeispiel: Nachtzug; 6 Std. Fahrt, ca. 350 km für 500 Rps (6 Euro)
Special-Luxus-AC-Express: Einzelpolstersitze zum Teil mit Tischen, 1 Wasserflasche + Mahlzeit inklusive, Air-Con im ganzen Zug, Panoramascheiben. Preisbeispiel: 5 Std. Fahrt, ca. 400 km für 690 Rps. (9 Euro)

4. Rechtzeitig am Bahnhof sein; aber immer mit Wartezeit rechnen !                                                          Auf Bahnhöfen gibt es mitunter winzige, düstere Warteräume mit Stühlen - ansonsten wartet frau stehend, auf eine Mauerecke gequetscht oder einen der begrenzt vorhandenen Drahtbanksitze ergatternd am heißen Bahnsteig - die meisten Familien sitzen am Boden und essen aus mitgebrachten Schraubmetalldosen ihr Thali, Dosa oder was auch immer mit Pita aus der Hand und Wasser aus dem Kanister.

5. Im Hotel zuerst das Zimmer anschauen - Funktion von Dusche und Klospülung prüfen; Handtuch und u.U. sauberes Kopfkissen sofort einfordern - Preisverhandlungen sind eher die Ausnahme ! Bevorzugt Zimmer nach hinten im Erdgeschoss wählen mit mindestens einem Fenster. Fensterlose Zimmer sind selbst mit Fan unerträglich stickig !

6. Immer eine Flasche Wasser im Gepäck haben und ständig trinken, um plötzliche Erschöpfungszustände zu vermeiden ! An Bahnhöfen und Tempeln gibt es oft Trinkwasserstationen, an denen frau die Flasche (anfangs mit Bedenken - später ohne) auffüllen kann !

7. Möglichst in allen Situationen gelassen und geduldig bleiben - vieles  bleibt unverständlich, absolut sinnlos, nervtötend oder unfair - aber: So ist Indien !

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